Infiniter Regress oder Zirkelschluss?
~ Oder: Warum in jedem Warum das Warum unseres Daseins steckt.
Fussnoten
1 Siehe S. 9-10; Traktat über die kritische Vernunft (1991): Albert, Hans; Tübingen, Mohr: 1968
2 Siehe S. 15-36; Traktat über die kritische Vernunft (1991): Albert, Hans; Tübingen, Mohr: 1968
3 Siehe S. 37; Traktat über die kritische Vernunft (1991): Albert, Hans; Tübingen, Mohr: 1968
4 Übersetzt aus: Cameron, Ross, "Infinite Regress Arguments",
(Link)
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Verfasst 2018 im Rahmen des Seminars “Was sind geistige Fähigkeiten?” an der Universität Leipzig. Aktualisiert und redigiert im Oktober 2021.
1 Siehe S. 9-10; Traktat über die kritische Vernunft (1991): Albert, Hans; Tübingen, Mohr: 1968
2 Siehe S. 15-36; Traktat über die kritische Vernunft (1991): Albert, Hans; Tübingen, Mohr: 1968
3 Siehe S. 37; Traktat über die kritische Vernunft (1991): Albert, Hans; Tübingen, Mohr: 1968
4 Übersetzt aus: Cameron, Ross, "Infinite Regress Arguments",
(Link)
Verfasst 2018 im Rahmen des Seminars “Was sind geistige Fähigkeiten?” an der Universität Leipzig. Aktualisiert und redigiert im Oktober 2021.
1. Das Problem der Begründung
„Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm!“ – lautet es in der deutschen Titelmelodie der Sesamstraße. Bereits Kleinkindern wird „Warum?“ als eine Frage präsentiert, die sie weiterführt. Doch – und darum soll es in diesem Text gehen – wohin?
Die endlose Frage nach dem Warum: Was für Kinder ein großer Spaß ist, während es so manche Eltern schwach werden lässt, gilt in der Philosophie als eine ernstzunehmende und bedeutungsvolle Herausforderung.
Denn: Wenn sich meine Begründung auch wieder hinterfragen lässt, kann ich dann jemals etwas begründen? Ich kann niemals die Begründung meiner Begründung begründen, ohne nicht in einen infiniten Regress zu geraten.
Jenes Phänomen bezeichnet Philosoph Hans Albert als das „Problem der Begründung“. (1)
Von größerer Bedeutung als das spielerische Warum im Kinderzimmer wird das Problem der Begründung zum Beispiel in der Wissenschaft – eine Disziplin, die vorrangig die Erkenntnis zum Ziel hat.
Wenn wir in der Wissenschaft nach der Wahrheit suchen, so Albert, „scheint es ganz natürlich zu sein, dass wir Sicherheit darüber anstreben, ob das, was herausgefunden wurde, auch wahr ist, und eine solche Sicherheit scheint nur dann erreichbar zu sein, wenn wir ein Fundament für unser Wissen haben, das heißt: wenn wir dieses Wissen so begründen können, dass es über jeden Zweifel erhaben ist.“ (1) Die Suche nach der Wahrheit ist somit auch immer gleich die Suche nach sicheren Gründen.
Verlangt man allerdings für alles eine Begründung, verlangt man auch automatisch für die beweisende Erkenntnis der kürzlich erlangten Überzeugung eine Begründung.
Nun gibt es für Hans Albert drei Optionen, die er unter dem sogenannten „Münchhausen-Trilemma“ zusammenfasst. Namensgeber hierfür ist der Lügenbaron von Münchhausen, der sich seiner selbst verfassten Legende nach am eigenen Haarschopfe aus dem Sumpfe zog.
Ist man erstmal in so einem Trilemma gefangen, gibt es, wie der Name vermuten lässt, an der Zahl drei Möglichkeiten, die im Sinne Alberts etwa so viel Wahrheitscharakter und damit Begründungsplausibilität enthalten wie die Aussage, sich selbst aus dem Sumpf gezogen zu haben. Sie lauten, zitiert aus Hans Alberts „Traktat über die kritische Vernunft“ (1968), wie folgt:
- Der infinite Regress, der durch die Notwendigkeit erscheint, „in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert.
-
„Einen logischen Zirkel der Deduktion, der dadurch entsteht, dass man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich:
-
einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt; der zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde.“ (2)
Interessant hierbei ist, dass die dritte Variante erstmal am attraktivsten erscheint, da sie als einzige zu einem Ende kommt – aber nicht ohne die Konsequenz, im Dogmatismus, also einer keiner Begründung bedürftigen Wahrheit, enden zu müssen. Regress und Zirkel kommen ohne eine als unanfechtbar festgelegte Wahrheit aus – weil sie gegebene Antworten niemals akzeptieren, sondern auch diese wiederum begründet haben wollen.
Und genau, weil alle Optionen des Trilemmas zu erheblichen Schwierigkeiten führen, werden sie - sobald sich beispielsweise ein Regress in einer Theorie eines Gegners findet - dafür verwendet, um die besagte Theorie, meist mit dem bloßen Aufzeigen (beispielsweise eines Zirkelschlusses), zu kritisieren.
Doch: Lassen sich Situationen, die zu einem Trilemma führen, denn überhaupt vermeiden?
2. Lässt sich das Münchhausen-Trilemma vermeiden?
„Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos“ (2)
Das sind die Worte Alberts zur Zusammenfassung seiner Kritik am Rationalitätsmodell. Zur Stützung seiner These führt Hans Albert auch Hugo Dingler an: „ (…) will man letzte Sicherung haben, dann ist die einzige Möglichkeit, diese aus dem Willen zu gewinnen.“ (3) Demnach kann man die letzte Sicherung nur dann garantieren, wenn ich sie auch als richtig akzeptieren will.
Das Problem, das Hans Albert hier behandelt, ist eines der größten Probleme der Philosophie. In Platons „Theaitetos“ bereits stellt man sich die Frage, was Wissen sei, vielleicht eine wahre gerechtfertigte Meinung? Doch wie rechtfertigt man etwas? Durch eine Begründung? Oder kann man sich der Wahrheit nur annähern, indem man die Falsifikation Karl Poppers heranzieht?
Mit dieser Frage könnte man sich sein Leben lang beschäftigen. Doch scheint sie dadurch gleichzeitig auch begrenzt zu sein: Wir sind sterblich. Also haben wir nicht unendlich viel Zeit – und auch nicht genügend Zeit, um alles zu hinterfragen. Was hinterfragen wir also? Manche Definitionen/Dogmen sind plausibler als andere, und manche sind für uns von größerer Bedeutung: Ob nun Wale Säugetiere sind oder nicht, hat im Alltag ein geringeres Ausmaß als die Frage, ob alle Geschlechter als gleichberechtigt verstanden werden.
Was wie eine Binsenweisheit klingt, ist doch erwähnenswert: Das Problem nach der Begründung entsteht nicht, wenn wir nicht nach einer Begründung fragen.
3. Der infinite Regress
Ein infiniter Regress ist eine Reihe von miteinander verknüpften Elementen, die ein Anfangsmitglied aber kein Abschlussmitglied besitzen, bei dem jedes Element das nächste generiert oder bedingt.
Das Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Hamburg: Meiner, 1998) definiert den (infiniten) Regress wie folgt:
„Regress, lat. Regressus: der Rückschritt, Rückgriff; in der Logik das Rückschreiten des Denkens vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Bedingten zur Bedingung, von den Wirkungen zu den Ursachen;
regressus in infinitum: das Rückschreiten ins Unendliche in einer unendlichen Reihe“ (4)
Um die Definition des infiniten Regresses zu veranschaulichen, ließe sich hier erwähnen, dass ein infiniter Regress nicht immer als problematisch gesehen werden muss. So ist zum Beispiel die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen durch einen infiniten Regress legitimiert: Jede natürliche Zahl begründet sich durch die Vorgängerzahl plus 1.
Die Möglichkeit zum infiniten Regress ist omnipräsent. Jede Begründung bietet die Möglichkeit, auch nach ihrer Begründung zu fragen. Das kann manchmal anstrengend werden – vor allem für das für die Antworten verantwortliche Gegenüber.
Aber ist die Vorstellung nicht auch sehr beruhigend? Wir können alles hinterfragen. Wenn sich etwas per Definition nach nicht hinterfragen lässt, handelt es sich um ein Dogma, eine unanfechtbare Wahrheit. Man kann Sätze nur mit anderen Sätzen begründen. Suchen wir nach einer Begründung, so suchen wir nach ihr stets in einem von Menschen geschaffenen System.
Da würde ich immer noch lieber das schwindelerregende Gefühl in Kauf nehmen, das einem der infinite Regress bereiten kann, und uns die Grenzen unseres Wissens, die Grenzen unserer Spezies und unserer Freiheit bewusster macht. Und doch sind manche Theorien und Begründungsansätze plausibler als andere. Wir können uns der Wahrheit nur annähern.
Wird man das Nächste Mal gefragt, warum man dieses oder jenes getan hat, kann man ja versuchen, die Vielschichtigkeit unserer Gründe, die einem Handlungsspielraum als auch tausender unserer Überzeugungen unterliegen, besser zu illustrieren, indem man mehrere Gründe angibt.
Vielleicht sollte man es also wie die Besten machen und diesen Text aporetisch enden lassen – so wie Sokrates, der bekanntlich wusste, dass er nichts weiß.