Lorem Ipsum:
“Ein Text, der nichts bedeuten soll”. Der Schmerz! Er hat sein “do” verloren.





a) Emil Bærentzen: Regine Olsen (1840)
Wie oft kann ich sagen, dass ich mich mal wieder etwas getraut habe?
Die Frage, was man unter dem Wort “mutig” versteht, ist ein so subjektives Unterfangen, dass wohl jeder diese Frage für sich selbst beantworten muss. Was viele oder sogar die meisten Menschen für mutig halten - das ist meist nicht so spannend wie das, was für mich als Individuum sehr mutig ist - wobei sich das selbstverständlich auch doppeln kann. Ich selbst gehöre ja auch “zu den Meisten”. Und andere Menschen verstehen auch, dass etwas, was für sie nicht mutig ist, dann aber für jemand anderen sehr mutig sein kann. Warum ist das so? Weil wir alle verstehen, dass verschiedene Menschen verschiedene Grundvoraussetzungen (wie beispielsweise Erfahrungen) mitbringen. Autofahren ohne Fahrerfahrung ist mutiger als mit einer solchen.
Am aufschlussreichsten ist es wohl, sich selbst zu überlegen, was denn nun ein mutiges Unterfangen im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und Vorraussetzungen sei. Bevor ich Sie bitte, es mir gleichzutun, möchte ich nun ein Beispiel geben, also von etwas berichten, das ich selber für sehr mutig halte:
Es handelt sich dabei um den Akt der Veröffentlichung eigener Gedanken im Internet. 
Immer wenn ich das tue, bin ich ganz aufgeregt - und oft weiß ich hinterher auch nicht wirklich, ob das nun eine gute oder schlechte Idee war. (Dieses Gefühl gilt selbstverständlich auch für diesen Text.)
Da es leider unmöglich ist, ausschließlich Texte zu veröffentlichen, die jedem gefallen, muss man hoffen, dass denen, an dessen Meinung einem etwas liegt, die offengelegten persönlichen Gedanken als weitestgehend bereichernd empfinden. Doch wie kann immerhin das erreicht werden? Einige verfolgen dafür den Ansatz, nur das zu veröffentlichen, was ihnen selber gefällt. Aber: Selbstkritischen Menschen sei diese Methodik wohl nicht weiterzuempfehlen. Und ohnehin ist man selbst auch nicht das Maß der Welt. Ich weiß zwar wenigstens, dass meine ausgestreckten Arme von Mittelfinger zu Mittelfinger meiner Körpergröße entsprechen (1,65m), aber eigentlich wäre es für das spontane Messen kleinerer Gegenstände auch gut, eigene Fingerlängen zu wissen - die leider immer wieder aufs Neue vergesse (nur weil ich etwas für hilfreich halte, heißt das nicht, dass ich es mir zwingend merken kann - warum?). Damit möchte ich sagen, dass wir selber oft nur bedingt ein Maß darstellen. Natürlich - ich kann zumindest im Ansatz einschätzen, was eine nette Bereicherung darstellen könnte, doch mit dieser Schätzung verhält es sich wohl in etwa so wie mit diesen Samenmischungen, die man im Frühjahr beispielsweise bei Netto kaufen kann. Was ich damit meine? Also, zu allererst kaufen ja viele die Samenmischung und streuen sie dann gar nicht erst aus. Sprich: Man könnte etwas Bereicherndes sagen, tut es aber gar nicht erst - vielleicht aus der Angst, dass eben Besagtes gar nicht erst keimen würde und man dann mit einem peinlich leeren Blumenkübel dastehen würde. Oder man säht die Samen eben doch, aber kann dann nicht prophezeihen, an welcher Stelle welche Blumen blühen werden. Oft verteilen sie sich dann nicht regelmäßig, sondern sprühen nur an einer Stelle aus - und so ist das natürlich auch mit den Gedanken, die man mit anderen Menschen teilt. Eine*r profitiert davon mehr als der*die Andere. Um ein neues Maß aufzustellen, wann ein Text von Bedeutung ist, hätte ich hier diesen Vorschlag: Ein Text ist bereichernd, wenn er spannender als der Fülltext Lorem Ipsum ist. 
Ich glaube, dass mittlerweile mehr Menschen als nur die Grafikdesigner*innen unter ihnen wissen, dass der Lorem Ipsum ein Blindtext ist, “der nichts bedeuten soll”. 
Er hat allerdings doch einen Inhalt - nämlich einen, der sich nur dem offenbart, der Latein lesen (oder übersetzen) kann. Das Interessante an diesem berühmten Fülltext ist, dass er nicht nur mitten im Satz, sondern mitten im Wort beginnt. 
Der Satz, dem er entstammt, ist der Folgende:

“Neque porro quisquam est, qui dolorem ipsum, quia dolor sit, amet, consectetur, adipisci velit […].”
„Ferner gibt es auch niemanden, der den Schmerz um seiner selbst willen liebt, der ihn sucht und haben will, einfach, weil es Schmerz ist […].“

Dolorem, das ist der Schmerz (dolor dolōris, m (Subst., kons. Dekl.) = dolorem: Akk. Sg.), und ihm wurde kurzerhand die erste Silbe, das “Do”, geklaut. 
Dass gerade dem Schmerz, über den Cicero (106-43 v.Chr.) da in seiner philosophischen Schrift “De finibus bonorum et malorum” (deutsch „Vom höchsten Gut und vom größten Übel“; 45 v.Chr.) ein Drittel abgeschnitten wurde, hätte ihn wohl weniger verwundert als die Tatsache, dass sein Text zwar weltweit auf tausenden Websites und Büchern und auch (aus Versehen) auf allerhand Produkten zu finden ist, aber nicht aus dem Grund, dass alle seinen Text lieben, sondern durch einen aberwitzigen Zufall, der wahrscheinlich in den 1960er Jahren durch eine Reklame des Transferfolienherstellers Letraset seinen Weg in die Welt gefunden hat.
Dieses Phänomen berührt mich auf eine sehr melancholische Art und Weise immer wieder aufs Neue - und erinnern tut mich der Text an Regine Olsen (*1822-1904). Regine Olsen, das war die große Liebe des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, die auch nur berühmt geworden ist, weil Kierkegaard sie trotz beidseitiger romantischen Gefühle füreinander nicht zur Frau nehmen wollte - nämlich genau aus diesem Grund: Aus Angst vor der vollständigen Hingabe zur großen Liebe. Regine Olsen wurde verlassen, weil sie zu innig geliebt wurde - und erlang damit ihre bis heute währende Berühmtheit. 
Wo wir auch sähen - was keimt, das entscheiden nicht wir.